Der reiche Hiob ist der Spiegel, in dessen Rahmen das Leiden sich beispielhaft vor Augen stellt, allerdings mit schrecklichen Verzerrungen. Sogar der Satan in Person erscheint in Hiobs Geschichte, um den Gottesmann in Versuchung zu führen. So züchtigt er Hiob, um dessen Frömmigkeit auf die Probe zu stellen. Nicht genug, dass der reiche Mann dabei all sein Vieh einbüßt, auch die Knechte kommen um, Hiobs Söhne und Töchter werden bei einem Wirbelsturm erschlagen. Doch Hiob widersteht dem Satan. Nun muss unbedingt angemerkt werden, dass Hiob und sein Widersacher einander nie begegnen. Hiob übersteht die Probe, ohne eigentlich von der teuflischen Probe zu wissen. Wer und was ihm das Leid auferlegt hat, bleibt ihm unklar.
Hiob wird ein zweites Mal auf die Probe gestellt. Diesmal unterliegt er und seine Hoffnung schwindet. Er möchte sterben. Da Hiob aber nicht weiß, weshalb er ins Unglück gestoßen worden ist, klagt er anfangs nicht Gott an, sondern sich selbst. Der Leser bemerkt, wie sehr Hiob von Schrecken und Trauer überwältigt ist. Der Leser sieht, dass Hiob sich selbst vernichten möchte. Vieles in Hiobs Vorstellungen entspricht dem, was Sigmund Freud über Trauer und Melancholie ausgeführt hat: schmerzliche Verstimmung, Abfall der Leistung, Passivität, Ichverarmung, Selbsterniedrigung, Lebensunlust.
In dem vorliegenden Text geht Sigmund Freud anfangs der Frage nach, was Trauer und Melancholie miteinander verbindet. Der Text ist Freuds Abhandlung „Über Trauer und Melancholie“ entnommen. Die Abhandlung ist im Jahr 1917 erschienen. Freud legt dar, dass Trauer und Melancholie der Verlust eines Liebesobjekts zu Grunde liegt. Trotz dieser Gemeinschaft würden Trauer und Melancholie unterschiedlich bewertet. Hinzu kämen weitere Gemeinsamkeiten, wie der Autor feststellt. Am Ende hebt er doch einen gravierenden Unterschied zwischen Trauer und Melancholie hervor. Das Besondere an der Melancholie sei der Verlust an Selbstgefühl.
Z. 1–12: Der Zusammenhang von Trauer und Melancholie,
Z. 13–17: Melancholie als Herabsetzung des Selbstgefühls,
Z. 18–27: Weitere Gemeinsamkeiten von Trauer und Melancholie,
Z. 28–44: Melancholie als Krankheit.
Trauer und Melancholie werden im Allgemeinen als verbunden angesehen. Der Autor lässt sich auf diesen Gedanken ein, weil er ihn für „gerechtfertigt“ (Z. 2) hält. Nicht nur mit Blick auf das „Gesamtbild“ (Z. 1) werden beide Zustände als einander ähnlich betrachtet, sondern auch hinsichtlich der „Lebenseinwirkungen“ (Z. 2), durch die sie herbeigeführt worden sind. Der Autor meint dabei den Verlust eines Liebesobjekts, sei es der „Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.“ (Z. 4–5). Die in solchen Fällen auftretende Reaktion leuchte unmittelbar ein. So gesehen, betrachte daher niemand Trauernde und Melancholiker als „krankhaft“ (Z. 6), nur weil sie sich nicht „normal“ (Z. 10) verhielten: „Wir vertrauen darauf, daß [die Trauer] nach einem gewissen Zeitraum überwunden sein wird, und halten eine Störung derselben für unzweckmäßig, selbst für schädlich“ (Z. 10–12).
Im Folgenden wird der Begriff der Melancholie näher gefasst, d.h. der Autor nennt mehrere Symptome, die für die Melancholie zutreffend sind: „eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, […] Verlust der Liebesfähigkeit, […] Hemmung jeder Leistung“ (Z. 13–15). Bei diesen Symptomen – so lässt sich deren Beschreibung zusammenfassen – kommt ein Mangel an sozialem Gefühl zum Vorschein. Der Melancholiker zieht sich zurück, so dass kaum mehr anzugeben ist, ob er an den Ereignissen der Außenwelt überhaupt Anteil nimmt. Zu sehr ist der Melancholiker nämlich mit sich selbst befasst – das heißt, sofern das Selbst des Melancholikers in vollem Umfang noch als „Selbst“ angesprochen werden darf.
Die Trauer spiegelt in vielem dasselbe wider: „die nämliche schmerzliche Stimmung […] die Abwendung von jeder Leistung“ (Z. 20–23). Der Trauernde so wie der Melancholiker bleiben für sich, sie werden durch die Trauerarbeit absorbiert (Z. 26: „[F]ür andere Absichten und Interessen [bleibt] nichts übrig“).
Der Unterschied zwischen Trauer und Melancholie tritt in dem letzten Abschnitt des vorliegenden Textauszugs besonders deutlich hervor. Für den Trauernden, betont der Autor, sei die Welt zerstört, für den Melancholiker dagegen nicht nur die Welt, sondern das Ich selbst (vgl. Z. 34–35), so dass sogar der Gedanke an den Selbstmord nicht fern liege. Der Melancholiker zeige die Tendenz, den Lebenstrieb auszuschalten (Z. 43–44: „[die] Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt“).