– auch ohne Kirche
Klausurbeispiel:
Seit mehr als einem Jahrhundert wird der Satz des französischen Historikers und Theologen Alfred Loisy kolportiert: „Jesus verkündete das Reich Gottes – gekommen ist die Kirche“. Der meist kirchenkritisches verstandene Satz ist seitdem in vielen Arbeiten zu christlichen Frühgeschichte Gegenstand der Untersuchung gewesen. Der katholische Theologe Otto Hermann Pesch fasst in dem mir vorliegenden Textausschnitt den Konsens der neueren Forschung zusammen.
Der Text lässt sich in die folgenden Abschnitte gliedern:
1. Zwei Extrempositionen in der Frage, ob Jesus tatsächlich die Kirche gestiftet habe (Z. 1–4),
2. Jesu Sorge um die Verkündigung des Reiches Gottes nach seinem Tod (Z. 5–14),
3. Auslegung der Worte Jesu an Petrus (Z. 14–38),
4. Fazit (Z. 39–53).
Der Leser könnte sagen: Kirche beginnt genau dort, wo die Frage nach der Struktur der Kirche aufhört. Dies muss bedacht werden, wenn man den Ausführungen Otto Hermann Peschs zur Stiftung der Kirche folgt. Von Anfang an muss daher auf die Differenz zwischen ultrakonservativen und „ultrarationale[n]“ (Z. 3) Christen reflektiert werden. Jene vertreten die Ansicht, dass Jesus Struktur und Verfassung der Kirche intendiert habe (vgl. Z. 46), diese dagegen leugnen, dass er solches gewollt habe, meinen sogar, dass er „nicht einmal an so etwas [d. h. an eine Kirche, Anm. von mir] gedacht“ (Z. 4) habe. Diese beiden Extrempositionen sind im Hinblick auf die vorliegende Argumentation von vornherein auszuschließen. Zwei Bibelzitate, auf die Otto Hermann Pesch im vorliegenden Text sein Augenmerk richtet, stellen sich diesen Extrempositionen in den Weg.
Das erste Zitat (Lk 22,15–18), das Jesu Worte beim letzten Mahl vor seinem Tod beinhaltet (vgl. Z. 8–12), macht klar, dass Jesus zunächst nicht nach der Kirche, sondern nach dem Reich Gottes verlangt. Seine Sorge gilt seinen Jüngern, die nach seinem Tod in der Mahlgemeinschaft zusammen bleiben sollen, „bis das Mahl seine Erfüllung findet im Reich Gottes“ (Lk 22,16; Z. 9–10). Das sich erfüllende Reich Gottes erfordert offenbar keine anderen Strukturen als die Mahlgemeinschaft der Jünger und die Verkündigung der Botschaft Jesu. Damit wäre also die ultrakonservative Position widerlegt: Vorgaben in Richtung auf amtliche Strukturen fehlen in Jesu Worten.
Otto Hermann Pesch legt den Mahlbericht so aus, dass Jesus offenbar fest damit rechnet, dass es mit der Verkündigung des Reiches Gottes nach seinem Tod weitergeht (vgl. Z. 13–14).
Im Folgenden wendet sich Pesch dem sogenannten Felsenwort zu: „Du bist Petrus, der Fels, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18; zitiert nach Pesch, ebd. Z. 15–16). Bekanntlich hat Jesus eine derart hohe Meinung von Petrus, als dieser ihm sein Vertrauen erweist, dass er ihn als Felsen der Kirche apostrophiert. Für Pesch ist klar, dass Petrus damit eine führende Rolle im Kreis der Zwölf zugewiesen wird. Dass dies keine subjektive Auslegung des Felsenwortes ist, geht – laut Pesch – schon daraus hervor, dass Petrus in der Folge tatsächlich diese Autorität besessen hat (vgl. Z. 16–19). Es sei also objektiv so, dass Petrus eine führende Rolle gespielt habe. „Kaum“ (Z. 21) werde Petrus aber von Jesus das Papstamt zugesprochen, auch sei eine Sukzession der Bischöfe bzw. Päpste in Rom – bis 189 – historisch nicht nachgewiesen (vgl. Z. 29–33). Sicher sei vorher schon eine Gemeindestruktur in Rom ausgebildet gewesen: „[M]it Sicherheit existierte die römische Gemeinde schon vor seiner Ankunft“ (Z. 27–28). Und es sei möglich, dass die Gemeinde in Rom gar nicht von einem Bischof geleitet worden ist. Das Felsenwort sei folglich wie andernorts auch im allgemeinen Sinn auszulegen (vgl. Z. 23–25).
Generell betrachtet ist damit ein offenes Kirchenverständnis ausgesagt: „Die Struktur der Kirche ist von Jesus her vollkommen offen, und die junge Kirche hat damit auch keine Probleme gehabt“ (Z. 44–45). Dies sei laut Pesch auch der Standpunkt des Weltkatechismus, der Mt 16,18 entsprechend vorsichtig auslegt (vgl. Z. 41–44).